Zielfoto gegen die Angst

Eine Story von Sir_pxalot
08.03.2023

In dieser Story

Der ständige Begleiter

Um zu verstehen, warum gerade dieses Foto mein bisher wichtigstes Foto ist, muss man meine Geschichte kennen. Zugegeben, es ist technisch sicher nicht mein bestes Foto, jedoch war es für mich rückblickend betrachtet das ganz große Ding.

Aber fangen wir vorne an. Leider habe ich mir schon einige Jahre vor Corona eine Generalisierte Angststörung zugelegt. Völlig unfreiwillig und unvorbereitet traf es mich Ende 2017 wie der Blitz und begleitet mich seitdem auf all meinen Wegen. Durch eine Verhaltenstherapie hatte ich gelernt mich soweit damit zu arrangieren, dass ich mit der Angst gut leben konnte. Dann kam Corona und alles wurde wieder schlimmer.

Meine Tage verbrachte ich im Homeoffice und danach meistens im Bett. Völlige Schonhaltung und ja nicht überanstrengen. Es kommen komische Gefühle hoch? Bloss nicht zulassen, einfach verdrängen. So verbachte ich die Kalenderjahre 2020 und 2021. Und das obwohl ich gerade zum ersten mal Papa geworden war und eigentlich vor Glück hätte platzen müssen. Doch die ständige Angst lähmte mich.

„Entfern dich nicht zu weit von ärztlichen Einrichtungen. Wenn dort etwas passiert, dann kann dir niemand mehr helfen. Schon dein schwaches Herz und leg dich lieber ins Bett.“

Dabei habe ich gar kein schwaches Herz. Oben sprach meine Angst zu mir. Jeden Morgen und jeden Abend. Eigentlich den gesamten Tag über. Und ich habe es geglaubt und mich immer mehr zurück gezogen.

Ich brauche ein neues Hobby

Früher habe ich viel Sport gemacht. Besonders Kardiosportarten hatten es mir angetan. Tja, dass hatte sich mit der Angststörung dann auch erledigt. Und als ich meine Mittage so im Bett verbrachte, überlegte ich mir, welches Hobby mich wieder vor die Tür bringt und das ich auch erstmal nur 50 Meter vor der eigenen Haustür ausüben konnte. „Geknipst“ habe ich schon immer gerne. Und so kramte ich meine Kamera wieder raus und traute mich jeden Tag ein klein weniger länger aus meiner Comfortzone. Und wenn ich doch mal wieder im Bett lag, dann lass ich Bücher zum Thema Fotografie oder schaute mir Videos von Stephan an und lernte so immer wieder etwas Neues, das ich dann natürlich draußen ausprobieren wollte. Die Fotografie schaffte das, was die Verhaltenstherapie nicht geschafft hat. Ich setzte mich wieder mit meinen Ängsten auseinander und forderte sie heraus. Ich holte mir mein Leben wieder Stück für Stück zurück.

Jetzt oder Nie

So wie vielen Fotografieeinsteigern erging es auch mir. Die direkte Umgebung vor der eigenen Haustür wird schnell langweilig. Gerade wenn man sich für Landschaftsfotografie interessiert, gibt die Stadt nicht wirklich viel her. Ich stand also vor einem Problem. Entweder ich hänge die Fotografie direkt wieder an den Nagel oder ich stelle mich einmal komplett meinen Ängsten und schaue was passiert. Ich wollte nicht schon wieder aufgeben. Ich wollte es einmal darauf ankommen lassen, auch wenn ich im schlimmsten Fall sterbe. Hört sich für euch vielleicht blöd an, aber Mitte 2021 war das meine Welt. Die Angst vor dem Tod und irgendwo alleine zu sein, wo mir niemand helfen kann.

Also brauchte ich eine schöne Fotolocation, an der ich alleine bin und ein Foto machen kann, wie ich es bis dahin noch nicht gemacht habe. Meine Entscheidung viel relativ schnell auf den Tempel am Niederwalddenkmal oberhalb von Rüdesheim. Hier könnte ich morgens wunderbar den Sonnenaufgang fotografieren und wäre mit Sicherheit alleine. In dem Moment, indem ich die Entscheidung getroffen hatte, bekam ich direkt Herzrasen, Schwindel und was man als Angstpatient eben so an Symptomen hat.

Der Tag der Tage

Zwei Wochen später war es dann soweit. Der Wetterbericht war gut und außer meinen Gedanken sprach nichts mehr gegen einen morgendlichen Ausflug nach Rüdesheim. Ich kann euch sagen, ich habe die Nacht kaum geschlafen. Morgens war mir total übel und ich zitterte vor Angst.

„Du kannst das nicht. Bleib hier, das Risiko ist es nicht wert. Du wirst dort oben einfach umfallen und sterben“

Immer wieder gingen mir diese Gedanken durch den Kopf und ich war wirklich kurz davor zu Hause zu bleiben. Aber dieses Mal nicht.

Also packte ich meinen Hund ein und stieg in mein Auto. Nach circa 35 Minuten Fahrt kam ich am Niederwalddenkmal an und war durch die Anspannung total verkrampft. Und dann das: Dicke Wolken hingen über dem Rhein und zu sehen war nicht viel. Was für eine Enttäuschung. Da hatte ich mich doch ganz um sonst hier hoch gequält. Aber hey, ich war hier. Ich war verdammt noch mal hier. Und ich werde jetzt auch ein Foto machen. Auch wenn es super langweilig aussehen sollte. Ich war das erstmal seit Monaten wieder alleine weiter weggefahren und daran wollte ich eine Erinnerung haben.

Die Angst besiegt

Also baute ich unter wachsamen Augen meiner Hündin Luna die Kamera aufs Stativ und genoß die kühle Morgenluft in meinen Lungen. Und in diesem Moment wurde ich auf einmal ganz ruhig. Die Verkrampfung löste sich auf, ich konnte frei atmen und endlich mal wieder einen Moment in vollen Zügen genießen. Und nicht nur das, mein Mut, mich der Angst zu stellen wurde an diesem Morgen doch noch belohnt. Von Minute zu Minute wurde es immer windiger und die Wolken wurden langsam Richtung Wiesbaden den Rhein hinauf getragen. Und dann? Dann ging die Sonne auf und fasst hätte ich das Fotografieren vergessen. Bis dahin hatte ich keinen Plan, wie genau das Foto aussehen sollte. Da Luna mir aber nicht von der Seite wich und mich genau beobachtete, kam mir die Idee, sie und mich ins Bild zu integrieren. So ist mein Foto entstanden. Und wir zwei saßen an dem Morgen noch lange nach Sonnenaufgang dort oben und haben ins Rheintal geblickt.

Und während ich das hier schreibe und an diesen Morgen zurückdenke, bekomme ich wieder Gänsehaut. Weil ich genau an diesem Morgen mein persönliches Zielfoto gemacht habe. Und immer wenn mich heute Zweifel plagen, wenn ich das Gefühl habe der Angst ausgeliefert zu sein, dann schaue ich mir das Foto von damals an und weiß, es gibt noch einige Zielfotos da draußen die auf mich warten.

 

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Autor:in
Sir_pxalot
Kaufmann aus Mainz
Hi ich bin Chris, Hobbyfotograf aus Mainz.
Hi ich bin Chris, Hobbyfotograf aus Mainz.

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Kommentare (14)

06.11.2023, 12:32 Uhr
Jochen Heyd
06.11.2023, 12:32 Uhr
Schöne Story, die ich gut nachempfinden kann. Leide selbst unter einer angst- und Panikstörung. Die Fotografie hilft mehr sehr dabei, mich in "unangenehme" Situationen zu begeben. Tolle Fotos!
23.03.2023, 11:13 Uhr
Ralf Wentz
23.03.2023, 11:13 Uhr
Hi Chris. Hier ist jemand, der deine Geschichte etwas teilt. Ich leide seit vielen Jahren unter Panikattacken. Mal ging es besser, mal weniger. Therapieversuche halfen nur wenig, während der Pandemie hab ich dann die Fotografie für mich entdeckt. Das hat mich natürlich längst nicht geheilt, aber es geht mir seit dem Woche für Woche besser. Um es mit den Worten eines berühmten Fotografen zu sagen: "Wenn ich fotografiere, habe ich keine Angst." Ich wünsch dir von ganzem Herzen alles Gute und dass die bösen Geister nicht so schnell zurück kehren ... und wenn doch, dann nur für einen Kurzbesuch. Liebe Grüße, Ralf
17.03.2023, 14:20 Uhr
Gordon Reinholz
17.03.2023, 14:20 Uhr
Hey Chris,
was für eine wunderschöne, berührende Story! Ich bin ge- und berührt. In deiner Story bekommt „die Fotografie“ eine wunderbare, magische Bedeutung. Es könnte meine Story sein…
Ich wünsche dir ganz viele super „Shots“ mit deinem Hund und deiner Familie, egal ob nah und fern, drinnen oder draußen. Den achtsamen Moment des Fotografierens mit dem drum herum genießen und es passieren kleine „Wunder“.
Alles Liebe und Gute
Gordon aus Dortmund
13.03.2023, 23:50 Uhr
TJ
13.03.2023, 23:50 Uhr
Ich bin begeistert! Das Wort Zielfoto passt wundervoll! Danke für deine offene und inspirierende Geschichte!
13.03.2023, 22:35 Uhr
Dennis Burghardt
13.03.2023, 22:35 Uhr
Ich feier dich sehr dafür. Das Foto ist schön aber noch viel wichtiger ist die Geschichte bzw. dein Mut dich deiner Angst zu stellen! Hut ab!

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