Das letzte mal

Eine Story von Niklas Kämpf
19.04.2024

In dieser Story

Mein Vater schreibt mir auf WhatsApp: “Wir müssen noch ein letztes Mal in die Finkenstraße. Im Keller stehen noch zwei schwere Kisten, du musst mir helfen, die in den Anhänger zu laden.” Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört? Aber jedes Mal, wenn wir ein “letztes” Mal in die Finkenstraße müssen, finden wir etwas, das zu schwer oder zu groß ist, oder uns fällt sonst noch eine Ausrede ein, warum wir noch ein weiteres Mal kommen müssen. Denn irgendwie will keiner von uns ein letztes Mal in dieses Haus. Das Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen ist. In dem mein Vater sich ihren Eltern vorgestellt hat. In dem ich jeden Tag nach dem Kindergarten mit meinen Großeltern darauf warten durfte, dass meine Eltern von der Arbeit kamen. Doch meine Großeltern sind, wie das Leben halt so spielt, schon viele Jahre tot, und nach vielen Anläufen, welchen Komplikationen auch immer geschuldet, hatte meine Familie nach über 3 Jahren endlich einen Käufer gefunden.

Ich kam an. Die schwere Tür zum Garten stand offen, und ich hörte laute Geräusche von der Terrasse. Mein Vater war dabei, die verrosteten Schrauben von einem alten Sitzbank-artigen Möbelstück zu flexen. Die Holzdielen, die die Sitzfläche bildeten, waren noch gut. So hatten wir uns eine Woche zuvor fachmännisch geeinigt, wie wir es so oft taten, wenn wir uns doch nicht von allen Erinnerungen an dieses Haus trennen wollten. Ich sah die Funken fliegen, und so schoss es mir in den Kopf. Ich, der es schaffte, bei fast jedem Spaziergang mit dem Hund den gleichen Baum in immer neuem Licht zu fotografieren, wollte jetzt nun wirklich das letzte Mal dieses Haus betreten, ohne Bilder zu machen? Nein, das konnte ich nicht. Ich drehte noch bevor mein Vater aufschauen konnte um und rannte zurück an die Straße zu meinem Auto. Ich griff zielsicher meine Fuji, schaltete sie im Rückwärtsrennen schon an und fing an, meinen Vater im Funkenflug abzulichten. Der, seit 27 Jahren nichts anderes von mir gewohnt, seelenruhig mit seiner Arbeit weitermachte, bis er die Stahlfüße endlich von der Sitzbank abgetrennt hatte.

Wir räumten gemeinsam die letzten schweren und sperrigen Sachen aus dem alten, mit Musikpostern aus den 70ern und 80ern tapezierten Keller nach oben an die Straße. Als wir fertig waren und uns fast schon auf den Rückweg machten, guckte mich mein alter Herr an und sagte: “Na los, du willst doch nochmal rein, Bilder machen.” Er hatte Recht, ich war hier noch nicht ganz fertig.

Und so ging ich ganz alleine nochmal durch das komplett leere riesige Haus. Raum für Raum suchte ich mir ein, zwei Details aus, um sie festzuhalten. Ich wollte das Ganze nicht auf Immobiliendokumentationsart einfangen, sondern mich an ein paar kleinen Details erfreuen, von denen ich wusste, dass ich sie nie wieder vergessen würde. So wie den grünen Teppich vor dem alten Büro meines Großvaters, auf dem ich so oft als kleiner Junge rumgekrabbelt bin, oder die Glasperlen des Kronleuchters, der früher über dem Esstisch baumelte.

Als allerletztes kam ich durch den Keller in das Schwimmbad. Kein Schwimmbad, wie man es sich ausmalen würde, aber doch ein circa fünf Meter langer, hellblau gefliester Innenpool, der, obwohl sich seit bestimmt 10 Jahren kein Wasser mehr darin befand, immer noch durch seinen Chlorgeruch bemerkbar machte. Ich hatte hier Schwimmen gelernt und konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich mich als kleiner Junge an meinen Großvater klammerte, weil ich nicht wie im Nichtschwimmerbereich des Freibades stehen konnte.

Nun stand ich hier wie in einem Endzeitzenario. Der Putz von den Wänden geplatzt, die Decke leicht hängend. Na ja, es war ja auch ein Endzeitzenario. Die letzten Minuten von mir und dem Haus. Doch ich empfand kaum Traurigkeit, nur Dankbarkeit für die tolle Kindheit, die ich haben durfte, und die unfassbar tollen Menschen, die meine Großeltern waren. Ich knipste ein paar Fotos und verließ das wirklichg letzte Mal das Haus.

In Gedenken an Ellen & Jürgen.

 

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Autor:in
Niklas Kämpf
Mediengestalter aus Buxtehude
Ich bin abenteuerlustig und kann mich für so ziemlich jedes Motiv begeistern.
Ich liebe eine gute Komposition und bin keineswegs ein Pixelfanatiker.
Ich leide schwer an G.A.S. und habe von Microskop-Linsen an 3D-gedruckten Adaptern bis Infrarot-Umbauten von alten Digicams schon einiges durchgemacht.
Ich bin abenteuerlustig und kann mich für so ziemlich jedes Motiv begeistern.
Ich liebe eine gute Komposition und bin keineswegs ein Pixelfanatiker.
Ich leide schwer an G.A.S. und habe von Microskop-Linsen an 3D-gedruckten Adaptern bis Infrarot-Umbauten von alten Digicams schon einiges durchgemacht.

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